Interview: Substanzgebrauch – worauf ist zu achten?

Die Nutzung von suchtauslösenden Substanzen – besonders bei Männern, die Sex mit Männern haben – ist ein Thema, das aufgrund von gleich zwei gesellschaftlichen Tabus oft nur verschämt und versteckt sozusagen „unter der Ladentheke“ behandelt wird. Sexualität und Drogengebrauch sind aber Alltag – und Hilfsangebote, wenn besonders Letzterer zum Problem wird, sind rar. Wir trafen uns mit Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, Chefarzt der Entwöhnungstherapie in der Hartmut-Spittler-Fachklinik im Vivantes Berlin (www.vivantes.de).

Foto: Vivantes

Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, Chefarzt der Entwöhnungstherapie in der Hartmut-Spittler-Fachklinik im Vivantes Berlin (www.vivantes.de).

Herr Dr. Chahmoradi Tabatabai, was machen Sie hier genau?

Die stationäre Behandlung von Suchterkrankungen ist in Deutschland in zwei Bereiche aufgeteilt: einmal die Akutbehandlung von Suchterscheinungen im Krankenhaus, finanziert durch die Krankenkassen, und die sogenannte Langzeittherapie, finanziert durch die Rentenversicherung, in Rehabilitationskliniken wie dieser hier. Wir behandeln Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit über 12 bis 15 Wochen je nach Krankheitsschwere und die Abhängigkeit von illegalen Substanzen über bis zu 26 Wochen.

So lange dauert eine Entwöhnung?

Ja. Die Kerntherapie dauert so lange in stationärer Behandlung. Natürlich gibt es noch Phasen des Übergangs nach Hause oder in Nachsorgeeinrichtungen, die unheimlich wichtige Kooperationspartner sind.

Wie hoch ist der Anteil an Männern, die Sex mit Männern haben, und dem Chemsex-Umfeld?

Ich habe keine konkreten Zahlen. Wir haben diese Fälle aber. Vor der Zusammenlegung der beiden Kliniken war ich in Spandau tätig, dort gab es sehr wenige Männer, die darüber offen gesprochen haben. Da waren viele Ängste und Scham im Spiel. Das hat sich hier am Standort in Berlin-Schöneberg geändert, was sicherlich auch der Bevölkerungsstruktur zu verdanken ist. Es löst allerdings interessanterweise immer noch Befangenheit aus, über Enhancement, also die Steigerung der sexuellen Aktivität durch Substanzen, zu sprechen. Das macht die Erhebung von Zahlen schwierig.

Wie sind Sie in der Szene vernetzt?

Wir haben eine Kooperation mit der Schwulenberatung und auch die Möglichkeit, eine Gruppe „Queer und süchtig“ anzubieten. Wir merken allerdings, dass die betroffenen Männer doch eher direkt zur Schwulenberatung gehen, und bekommen von dort die Rückmeldung, dass es immer häufiger Fälle aus dem Chemsex-Umfeld gibt und auch immer häufiger ein Reha-Potenzial erkannt wird. Dieser Schritt ist allerdings nach wie vor schwierig, weil sich die Männer mit dem Thema ein Stück weit isoliert fühlen. Wir haben 2017 mit Gesprächen begonnen und planen hier ein verbessertes Angebot.

Gibt es einen Unterschied zwischen der Partydrogen- und der Chemsex-Szene?

Die Berliner Partydrogenszene ist – nicht zuletzt durch die große Charité-Befragung – sehr gut beleuchtet. Dieser Substanzgebrauch findet auch in einem öffentlichen Umfeld statt, während die Chemsex-Szene ja häufig privat und etwas versteckt abläuft. Das macht es schwieriger, Zugang zu finden. Ich habe das in der Winterfeldstraße mal erlebt, als ich mit meiner Familie in einem Restaurant saß. Da liefen Männer an uns vorbei, die einen Beutel in der Hand gehabt haben. Ich hatte es gar nicht weiter beachtet, bis meine Frau, die auch in der Suchttherapie arbeitet, meinte: „Das ist ja unglaublich.“ Im Nebenhaus fand wohl so eine Chemsex-Party statt und die Enhancement-Mittel wurden stylish in schönen Glasfläschchen und gut sichtbar in dekorativen durchsichtigen Plastikbeuteln zur Schau gestellt. Das war etwas surreal.

Safer Use und Traumata

In den schwulen sozialen Medien sind die diesbezüglichen Codewörter inzwischen sehr verbreitet. Welche Probleme entstehen denn vielleicht in diesen Settings verglichen mit „normalem“ Party-Substanzgebrauch?

Foto: Vinicius Amano / unsplash

Das hängt sehr stark vom Setting ab. Wenn es tatsächlich um diese mehrtägigen Sessions geht, sind neben den Hinweisen für Safer Use auch allgemeine Empfehlungen wichtig. Wie ernähre ich mich in der Zeit? Wie gehe ich mit Flüssigkeitsdefiziten um? Wie behandele ich die gesundheitlichen Risiken, die diese Form des Gebrauchs mit sich bringt? Es gibt sicherlich viele User, die hierbei sehr strukturiert und gezielt vorgehen und ein überschaubares Risiko eingehen. Wir beobachten aber auch, dass es da Männer gibt, die Beziehungserfahrungen aus früherer Zeit mit einbringen.

„Männer, die ... auf solchen Partys dann unter Umständen misshandelt werden.“

Was meinen Sie damit?

Es geht um Traumata, zum Beispiel im Hinblick auf Gewalterfahrungen. Männer, die un- oder vorbewusst eine ähnliche Situation „suchen“ und auf solchen Partys dann unter Umständen misshandelt werden. Meistens läuft das gerade noch in einem Rahmen, der als Fetisch akzeptiert und verstanden wird. Es geht auch oft gar nicht um explizite Gewalt, implizit aber schon. Häufig haben diese Männer ein höheres Abhängigkeitspotenzial und nutzen Substanzen auch höher dosiert – bis hin zur Bewusstlosigkeit. Bei antriebssteigernden Mitteln kann es sogar zu Herz-Kreislauf-Problemen kommen. Insgesamt ein breites Spektrum an Risiken, die eingegangen werden können. Wenn sich das mit den eingangs erwähnten Risiken wie mangelnde Flüssigkeitsaufnahme etc. addiert, besteht akute Lebensgefahr bis hin zum plötzlichen Tod durch Erschöpfung.

Gibt es Ihrer Meinung nach einen Zusammenhang zwischen vermehrtem Substanzgebrauch und gesellschaftlicher Diskriminierung Homosexueller?

Das ist ein unglaublich schwieriger Komplex. Ganz prinzipiell glaube ich nicht, dass man, nur weil man schwul ist, ein höheres Risiko für Suchterkrankungen hat. Natürlich ist es so, dass für Schwule das Gleiche gilt wie für alle Menschen: Parameter wie Suchterkrankungen der Eltern oder mangelnde Akzeptanz im Umfeld können zur Entstehung von Depressions- und Suchterkrankungen beitragen. Es wäre interessant, hier genauere Zahlen zu bekommen und das zu erforschen. Man sollte sehr vorsichtig sein zu verallgemeinern.

Warum?

In der Schwulenberatung sehen wir sehr viele Schwule, die ein Problem mit ihrem Substanzgebrauch haben. Aber wir sehen eben noch viel mehr schwule Männer dort nicht: Die große Mehrheit der Schwulen hat gar keinen Anlass dazu, sich beraten zu lassen. Mit dem Rückschluss aus den Zahlen sollte man also wirklich seriös umgehen.

Was kann ich, was meine Freunde tun?

Unabhängig von den Zahlen: Wenn ich mir vorstelle, mit meinem eventuellen Suchtproblem zur Schwulenberatung zu gehen und am nächsten Tag weiß halb Schöneberg, dass ich da war, hält mich das doch eher ab. Kann ich nicht einfach auch zu einem Arzt wie Ihnen gehen?

Es gibt in Berlin in jedem Bezirk eine Beratungsstelle für Suchterkrankungen, an die ich mich völlig unabhängig von meiner Identität, meinem Geschlecht oder sonstiger Persönlichkeitsmerkmale einfach nur zur Überprüfung meines Konsumverhaltens wenden kann. Meistens sind diese Einrichtungen wegen des häufigen Mischkonsums integriert, sodass ich da immer an der „richtigen Adresse“ bin. Ich kann das sogar online schon über Fragebögen machen. Wie viele Drinks nehme ich zu mir, was konsumiere ich? Das kann man heute alles unabhängig von spezifischen Beratungsangeboten prüfen.

Woran merke ich denn, dass mein Konsum bedenklich wird?

Das ist ein sehr schleichender Prozess. Das bemerkt der Suchterkrankte selbst oft gar nicht. Aber wenn Sie Substanzen konsumieren, können Sie sich schon immer mal wieder die Frage stellen, wie oft am Tag Sie an die Substanz denken. Wann am Tag denken Sie daran, endlich wieder etwas nehmen zu können? Rückt diese Stunde vielleicht immer näher an den Morgen heran? Sind Sie vielleicht schon vom Umfeld auf Ihr Verhalten angesprochen worden? Haben Sie vielleicht Hobbys oder Dinge, die Sie gerne gemacht haben, zugunsten des Konsums reduziert oder ganz aufgegeben? Sport zum Beispiel. Wie ist es, wenn Sie wirklich mal ein paar Tage verzichten? Merken Sie nichts oder fangen Sie an zu schwitzen, bekommen ein kleines Herzrasen oder Ähnliches? Dann sind das Zeichen, dass Sie vielleicht schon in einer Abhängigkeit sind, das aber noch nicht realisiert haben.

Wegschauen ist falsche Rücksichtnahme

Wie können Freunde, Kollegen oder Bekannte damit umgehen, die so eine Veränderung bemerken?

Wir bewegen uns leider in einer Gesellschaft des absichtlichen Wegschauens. Man spricht den Menschen erst an, wenn etwas Dramatisches passiert. Häufig werde ich sonst in Ruhe gelassen. Vor allem, wenn ich nicht angesprochen werden will. Das bemerkt das Umfeld und berücksichtigt das. Eigentlich eine falsche Form der Rücksichtnahme. Man soll jetzt nicht auf denjenigen zugehen und sagen: „Was machst du denn da?“, sondern die oben beschriebenen Veränderungen ansprechen: „Ich mache mir Sorgen um dich, weil du XY nicht mehr tust. Ich weiß nicht, wie es dir damit überhaupt geht, und will es einfach mal ansprechen. Ich habe das Gefühl, es ist falsch, es jetzt nicht zu sagen. Die anderen denken, glaube ich, ähnlich, aber trauen sich nicht, dich anzusprechen ...“ – Also: Jemandem nicht mit Vorwürfen begegnen, sondern vorsichtig ausprobieren, ob man ihn erreicht.

*Interview: Christian Knuth

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