Hilfe, das Argument "Schützt die Kinder" ist zurück. Wie sollen wir damit umgehen?

Ein konservatives Horrorszenario kehrt in die öffentliche Debatte zurück: das Kind als Opfer der LGBT+ Emanzipation. Es heißt, Kinder würden dank der Erziehung in den Schulen von der LGBT+ Community „angeworben“. Dragqueen-Auftritte stehen in der Kritik, weil sie Kinder „groomen“ würden (Anm. d. Red.: als Grooming wird die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht bezeichnet). Die Unterstützung von Transgender-Kindern bei ihrer Transition sei „Kindesmissbrauch“. Langsam bahnt sich diese amerikanische Rhetorik auch ihren Weg nach Westeuropa und untergräbt die Sichtbarkeit unserer Community.
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[Redaktioneller Kommentar]

Das derzeitige gesellschaftliche Klima wird rauher, mit negativen Folgen für LGBT+ Menschen. Die Sichtbarkeit der Community wird zunehmend in Frage gestellt. Das Narrativ, welches die konservative Rechte entwickelt, geht über die weithin akzeptierte homophobe Aussage „Muss das alles so offensichtlich sein?” hinaus. In ihrem Widerstand gegen die Emanzipation von LGBT+ haben die Konservativen das ultimative Opfer ausgemacht: Kinder.

Die in den Vereinigten Staaten perfektionierte Argumentation lautet wie folgt: Die „woke Elite“ (Anm. d. Red.: als woke wird die in hohem Maße politische Wachheit und Engagiertheit gegenüber Diskriminierung aller Art bezeichnet) versucht, Kinder durch Erziehung über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität zu indoktrinieren und an sich selbst zweifeln zu lassen. Durch verschiedenste Gesetze und sozialen Druck soll Kindern der Zugang zu allem, was mit LGBT+ zu tun hat, verweigert werden.

Es ist eine häufig verwendete Taktik beim Framing (Anm. d. Red.: Als Framing – im negativen Sinne - wird bezeichnet, wenn ein spezielles Narrativ gewählt, sowie Informationen ex- oder inkludiert werden, um die eigene Agenda zu fördern und bei den Rezipient*innen ein falsches Bild der Realität zu erzeugen.) in den Medien: Es gibt ein Opfer (Kinder), das von einem Bösewicht (der „woken Elite“) bedroht wird. In diesem Märchen sind die Rechtskonservativen die Guten. Wie ein Ritter kämpfen sie gegen den progressiven LGBT+ Drachen. Und es ist schwer, dagegen zu argumentieren, denn wer ist schon gegen den Schutz „unserer Kinder“? Und so wird diese Masche ständig wiederholt. Dragqueens würden Kinder an ihrer eigenen Identität zweifeln lassen, also dürfen Dragqueens nur für über 18-Jährige zu sehen sein. Kinder werden angeblich gezwungen, ihr Geschlecht in Frage zu stellen. Deshalb dürfen sie Ihr Geschlecht nicht wechseln, bevor sie erwachsen sind. Ein Kinderbuch über schwule Eltern? Auch davor müssen Kinder geschützt werden, denn „sie denken noch nicht über solche Dinge nach“.

Auf diese Weise können Politiker und Meinungsmacher behaupten, dass sie nicht homophob oder transphob sind: sie sind nicht gegen LGBT+ Menschen, sondern für den Schutz von Kindern - ein weiterer klassische Masche des Framing. So auch bei der Debatte über Abtreibung: man ist für das Leben, nicht gegen die Abtreibung.

Es mag zwar vernünftig klingen, aber „Lasst Kinder Kinder sein“ greift auch indirekt die Errungenschaften der LGBT+ Community an. Es darf nicht vergessen werden, dass z.B. Aufklärung in den Schulen über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt etwas ist, für das lange gekämpft wurde, um ein sicheres Klima für LGBT+ Schüler zu schaffen. Und es hat seinen Grund, dass sich der Fokus auf Dragqueens richtet. Sie sind eines der sichtbarsten Symbole der LGBT+ Emanzipation. Die Tatsache, dass einige Gesetze in den USA Drag Queens bereits mit Stripper*innen und Gogo-Tänzer*Innen gleichsetzen, schränkt die Meinungsfreiheit der Community ein.

 

Anita Bryant

Die Annahme, dass Kinder als Opfer der LGBT+ Emanzipation angesehen werden sollten, ist nicht neu. Bereits in den späten 1970er Jahren wurde die schwule Gemeinschaft als Bedrohung für Kinder angesehen. Die ehemalige Miss Oklahoma und Sängerin Anita Bryant startete 1977 eine Kampagne mit dem Titel „Save Our Children“. In ihrer Kampagne behauptete sie, dass Homosexuelle Kinder „rekrutieren“ wollen, da sie selbst keine Kinder haben können. Ihre Rhetorik löste in der Community so viel Wut aus, dass ein Aktivist ihr, während einer Pressekonferenz, einen Kuchen ins Gesicht warf.

 

Ein bedauerliches Comeback

Bryants Rhetorik erlebt nun ein Comeback in der Debatte. Diese Argumentation wurde im vergangenen Jahr im US-Bundesstaat Florida für das berüchtigte „Don't Say Gay”-Gesetz verwendet. Das Gesetz besagt, dass eine Schule „keine Diskussion im Unterricht über sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität in einer Weise fördern darf, die dem Alter oder der Entwicklung der Schüler nicht angemessen ist”. In den USA wird heute häufig das Wort „Grooming” verwendet, das Homosexuelle implizit mit Pädophilie in Verbindung bringt.

Diese Rhetorik ist nun auch bei uns angekommen. Kürzlich wurde ein Dragqueen-Lesenachmittag für Kinder in Belgien von rechtsextremen Jugendlichen mit Schildern wie „Gender-Ideologie ist Pädophilie” gestört. Sie benutzten das Wort „Grooming”, das sie direkt aus dem amerikanischen Diskurs übernommen haben. In den Niederlanden fordert eine rechtsextreme Partei ein Verbot von Pride-Veranstaltungen und Dragqueen-Auftritten für Minderjährige. In der französischen Stadt Toulouse durfte ein Drag-Queen-Lesungsnachmittag auf Druck rechtsextremer Organisationen nur von über 18-Jährigen besucht werden. In Spanien sprach eine Kongressabgeordnete über die „alarmierende Zunahme von Fällen von Homosexualität und Transsexualität”, die ihrer Meinung nach das Ergebnis „staatlicher Indoktrination” sei.

 

Wie müssen wir damit umgehen?

Und so sickert die amerikanische Debatte in die westeuropäischen Gesellschaften ein. Dass diese Rhetorik das Fundament der LGBT+ Emanzipation untergräbt, muss sehr ernst genommen werden. Die Kultur unserer Community mag hinter abgeklebten Fenstern und anonymen Eingangstüren entstanden sein, aber die Tatsache, dass wir uns einen Platz in der heutigen Gesellschaft geschaffen haben, ist unser gutes Recht. Die LGBT+-Community als etwas zu bezeichnen, mit dem Kinder nichts zu tun haben sollten, ist eine getarnte Version von: „Geht zurück in eure versteckten Kneipen!“. Die konservative Rechte weiß auch, dass dies ein Schritt zu weit für die heutige Gesellschaft wäre, so dass das Argument „Schutz der Kinder” eine nette Fassade darstellt, hinter der sie ihre Anti-LGBT+ Rhetorik verstecken kann.

Und doch kann eine solche Rhetorik der Community schaden. Das Stigma, dass LGBT+-Menschen Kinder indoktrinieren wollen, kann Feindseligkeit hervorrufen. LGBT+ Aktivitäten nur für über 18-Jährige zuzulassen, hat drastische Auswirkungen auf unsere Sichtbarkeit.

Sollten wir als Medium über diese Themen berichten? Oder geben wir der dabei verwendeten Rhetorik damit eine Plattform? Es ist wichtig, weiterhin auf diese Entwicklungen aufmerksam zu machen, denn sie stellen eine ernsthafte Bedrohung für unsere Community dar. Wir müssen uns dessen bewusst sein und dürfen solche Themen nicht ignorieren, denn es ist wichtig, einen Gegenpol zu setzen. Deshalb werden Artikel, die diese Art von Argumenten enthalten, einen zusätzlichen Absatz über den Kontext und die zugrunde liegenden Ansichten enthalten. OUTtv versucht, alle Nachrichten über die LGBT+ Community so unabhängig wie möglich zu behandeln, aber als LGBT+ Medium ziehen wir eine Grenze bei Rhetorik, die unsere gesellschaftliche Position untergräbt.

Wir müssen die Sichtbarkeit unserer Community wertschätzen und verteidigen, auch für Kinder. Sichtbarkeit ist kein Aufzwingen, keine Indoktrination und schon gar kein Grooming. Sichtbarkeit ist unser Recht!

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