Neuseeland: Am glücklichsten Ende der Welt

Viele Neuseeländer leben einige Zeit im Ausland, bis die Sehnsucht nach der unberührten Natur und der ausgeglichenen Lebensweise der Heimat sie zurückholt. Und die Besucher? Sie lieben die unschlagbare Kombination von Weltläufigkeit und Lockerheit.

Im Laufe der Jahre hat sich die ganze Welt daran gewöhnt, am Flughafen strengen Regeln zu folgen. Das Gepäck? Auf keinen Fall auch nur eine Sekunde aus den Augen lassen! Geschenke von Freunden oder gar Fremden? Niemals annehmen! Zahnpasta ins Handgepäck? Nur in Mini-Tuben! Zwischen Gepäckaufgabe und Sicherheitskontrolle noch einen Kaffee trinken? Lieber nicht, wer weiß, wie lang die Warteschlangen sind. Doch Moment: Die ganze Welt macht das so? Nein, eine kleine Stadt am südöstlichen Rand des Pazifik leistet Widerstand und zeigt uns, wie friedlich und entspannt das Fliegen früher einmal war. Denn am Flughafen des Städtchens Nelson gibt es schlicht keine Sicherheitskontrolle. Sobald das Gepäck aufgegeben wurde, steigen die Fluggäste direkt in die kleinen Propellermaschinen. Metalldetektoren findet man daher ebenso wenig wie Röntgengeräte fürs Handgepäck oder Soldaten mit Maschinenpistole im Holster. Wenigstens eine Durchsage gibt es noch: „Sicherheitshinweis! Bitte nehmen Sie keine heißen Getränke mit an Bord der Flugzeuge“, ist da zu hören. „Sie könnten sich beim Einsteigen verbrühen.“

Kein Wunder, dass Neuseeland auf Besucher ein bisschen wirkt wie die Inseln der Seligen, verschont vom Unbill der modernen Welt. Doch Neuseeland mag abgeschieden sein, abgeschottet ist es nicht: Sehr viele Neuseeländer ziehen in ihrer Jugend ins Ausland. „Going overseas“ heißt das, und es gehört hier nicht nur zum Erwachsenwerden dazu, sondern wird auch vom Staat gefördert. Weil aber Australien etwas zu nah ist und dahinter lange nichts kommt, bedeutet „going overseas“ de facto, auf der anderen Seite der Erde zu leben.

Auch Andrew und Jonathan kennen den Duft der großen weiten Welt. Aus London sind sie nach Jahren des selbstgewählten Exils nach Neuseeland zurückgekehrt. Nicht aber nach Auckland, der größten Stadt des Landes, sondern auf die vorgelagerte Insel Waiheke. Statt eines Financial Districts gibt es hier Olivenhaine und sanfte Hügel, an deren Flanken Winzer ihre Reben ziehen. Aus der Weltmetropole London nach Waiheke – warum das? „Dort“, sagt Jonathan zur Begründung und zeigt aufs Meer, „sieht man immer wieder Delfine und Wale vorbeischwimmen.“ Der Stress und die Hektik Londons, die Jobs in der Finanzwelt, all das war dem Paar irgendwann zu viel. „Wir suchten nach einer Veränderung, aber in London blieb irgendwie alles beim Alten“, erklärt Jonathan. Als die beiden vor sieben Jahren während eines Heimaturlaubs nach Waiheke kamen, war klar: Hier wollen sie bleiben. „Wir haben damals mit eigenen Händen Austern geerntet“, sagt Andrew, und immer noch leuchten seine Augen bei der Erinnerung. Fast unvorstellbar war ihnen damals diese Nähe zur Natur. Schnell machten die beiden Nägel mit Köpfen, kauften ein leerstehendes Restaurant und renovierten. Heute sind frische Meeresfrüchte die Spezialität ihres „Oyster Inn“. Für Gäste haben sie im Nachbargebäude außerdem ein Bed and Breakfast eröffnet. Und der Wechsel von der Großstadt auf die Insel? Kein Problem, sagen die beiden unisono. „Bis vor einem Jahr haben wir sozusagen zur Sicherheit auch noch ein kleines Apartment in Auckland besessen“, erzählen sie. „Aber jetzt sind wir endlich ganz hier auf die Insel gezogen.“

Mit ihrem Rückzug nach Waiheke stehen Andrew und Jonathan in einer langen Tradition. Denn schon seit den 1960er-Jahren gilt die Insel als Paradies für Hippies, Freigeister und alle, die keine Lust mehr hatten aufs alltägliche Hamsterrad. Es überrascht daher kaum, nur wenige Kilometer vom Oyster Inn noch einen weiteren Ex-Londoner zu treffen. Auch er heißt Jonathan, auch er hat seine alte Heimat neu entdeckt. Auf einer niedrigen Anhöhe betreibt er das Bed an Breakfast „Boatshed“. Ein Koch stellt hier jeden Abend exklusiv für die Gäste ein mehrgängiges Menü zusammen. Von der Veranda schaut man über eine kleine Bucht, deren Küste von steilen Felsen begrenzt wird. Unten glitzert der Sandstrand in der Sonne, in der Ferne geht der Blick auf Inseln, die nur als Schatten am Horizont sichtbar sind. „Mein Vater ist Architekt und hat das Haus entworfen“, berichtet Jonathan, der vor 16 Jahren nach Neuseeland zurückkehrte, um das edle, dezent und stilvoll eingerichtete Gästehaus zu führen. „Anfangs habe ich die Stadt schon vermisst“, gibt er zu. Doch die ursprüngliche Idee, nur den Startschuss zu geben und dann einfach einen Manager für sein B&B einzustellen, gab er rasch wieder auf. „Recht schnell hat sich mein Leben hier entwickelt. Ich habe neue Freunde gefunden, einen Partner kennengelernt. Bald wollte ich nicht mehr nach London zurück, und auch heute käme das nicht mehr infrage.“

Doch nicht nur Rückkehrer wissen die Schönheit Neuseelands zu schätzen, auch Einwanderer haben auf den Pazifikinseln ein neues Zuhause gefunden. Reinhard und Petra etwa, die ursprünglich aus Freiburg im Breisgau stammen. Vor 22 Jahren haben die beiden entschieden, Europa den Rücken zu kehren. Reinhard, damals Manager bei einem Einzelhandelskonzern, war unzufrieden mit seinem Job. „Ich hatte keine Lust mehr, Angestellte herumzuschubsen“, berichtet er. Stattdessen folgten die beiden ihrem Traum: ein eigenes B&B besitzen, auf Neuseelands klimatisch begünstigter Nordinsel. Im Hinterland der wunderschönen Coromandel-Halbinsel mit ihren grünen Hügeln, durch die sich malerisch die Straßen schlängeln und die immer wieder überraschende Blicke auf den Pazifik freigeben, hat sich das Paar ihn erfüllt. Nach und nach haben sie ihre „Bushland Park Lodge“ aufgebaut, mit mittlerweile drei Gästezimmern, einer Sauna und einem weitläufigen Garten. Als Hideaway für verliebte Paare eignet sich die Lodge ganz besonders. Denn zum Gelände gehört eine romantische Glühwürmchen-Grotte, in der hunderte der kleinen Insekten nachts um die Wette leuchten. Direkt nebenan servieren Petra und Reinhard auf Wunsch ein Dinner for Two. Auch schwule Paare zählen regelmäßig zu den Gästen. „Wir haben hier schon so einige Heiratsanträge erlebt“, weiß Petra zu berichten. Die beiden Gastgeber haben sogar eine riesige Freiluftbadewanne aufgestellt, in die locker zwei Personen passen. Wer mag, kann so bei Mondschein und einem Gläschen Champagner den Abend ausklingen lassen.

Fragt man Rückkehrer und Auswanderer, was sie an Neuseeland so fasziniert, nennen sie oft die vielfältige, meist vergleichsweise unberührte Natur. Den Norden der neuseeländischen Südinsel etwa, wo die Ausläufer der dortigen Südalpen bis ans Meer reichen, wo der Blick über Buchten auf schneebedeckte Gipfel fällt, während die Frühlingssonne warm ins Gesicht scheint. Hier, in Nelson, weit ab von Auckland, haben sich Richard und James niedergelassen. Die beiden Neuseeländer sind wahre Globetrotter, die aus so gut wie jedem Land der Welt eine Geschichte zu erzählen wissen und mehrere Sprachen sprechen – auch Deutsch. Doch auch sie konnten sich dem Sog Neuseelands nicht entziehen. In liebevoller Kleinarbeit hat das Paar ein historisches Gebäude im viktorianischen Stil restauriert und unter dem Namen Te Puna Wai für Gäste geöffnet. Von der Veranda geht der Blick aufs Meer, abends scheint die Sonne in die Weingläser, die Weißwein von den hiesigen Weinbergen füllt. Abgeschiedenheit ja, Weltabgewandtheit nein, bescheinigen sie ihrer Heimat – und empfehlen zum Beweis das World of Wearable Art Museum. Ausgerechnet hier, mitten in der neuseeländischen Provinz, huldigt dieses dem avantgardistischen Modedesign – auch wenn der zugehörige Preis, der WoW-Award, mittlerweile in der kleinen Hauptstadt Wellington verliehen wird. Alle möglichen Materialien, darunter sogar Computertastaturen, haben Designer zu extravaganten Kleidungsstücken verarbeitet, die natürlich keineswegs tragbar sind, aber in ungläubiges Staunen versetzen. Doch Staunen ist man in Nelson ja gewöhnt, zwischen hohen Gipfeln, sanften Wellen und fürsorglichen Flughafenansagen.

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